Was heißt »glauben«?
»Einen Gott, den es gibt,
gibt es nicht«, sagte der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer
Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). In der Tat, die Wirklichkeit
Gottes ist weder experimentell noch mathematisch-logisch ableitbar.
Gott im Tiefsten und Letzten verstanden kann nie
einfach Objekt, ein Gegenstand, sein. Mit Gott meinen wir das
Un-definierbare, das Unbegrenzbare, die unsichtbare, unermeßliche,
unendliche Wirklichkeit.
Philosophisch gesehen hat
Immanuel Kant recht: Unsere reine, theoretische Vernunft, die
an Raum und Zeit gebunden ist, kann nicht beweisen, was außerhalb
des Horizonts unserer raumzeitlichen Erfahrung ist. Es bleibt
demnach unbeweisbar, sowohl daß Gott existiert,
als auch daß Gott nicht existiert.
Ein Mensch, der nach manchen
Zweifeln auf einen anderen Menschen sich in Liebe einläßt, hat
genau besehen keine strengen Beweise für sein Vertrauen, wohl
aber gute Gründe. Ähnlich ist der Glaube an Gott ein Akt vernünftigen
Vertrauens. Glauben ist weder ein rationales Beweisen noch
ein irrationales Fühlen. Glauben ist nicht ein bloßes Fürwahrhalten
von Sätzen, sondern ein Sicheinlassen des ganzen Menschen auf
die Wirklichkeit Gottes selbst.
Credo heißt: Ich glaube nicht
etwas, ich glaube nicht jemandem, sondern ich glaube an jemanden.
Credo heißt: Ich glaube nicht
an die Bibel, nicht an die Tradition, nicht an die Kirche, sondern
ich glaube an Gott!
Gilt die moderne
Religionskritik noch?
Die großen Religionskritiker
haben und hatten in allzu vielem recht.
Ludwig Feuerbach (1804-1872)
kritisierte zu Recht, daß der Glaube an Gott den Menschen von
sich selber entfremden und verkümmern lassen kann. Zu wenig menschlich
seien die Gottesgläubigen, als daß Gottlose sich von ihrem Gottesglauben
anstecken lassen könnten. Gott sei nur das ins Jenseits hinausprojizierte
Spiegelbild des Menschen. Feuerbach wollte deshalb, daß die Menschen
von Kandidaten des Jenseits endlich zu Studenten des
Diesseits würden.
Allerdings haben wir seit
Feuerbach ein Doppeltes hinzugelernt:
-
Heute gibt es ungezählte
Menschen, die freie, selbstbewußte Bürger sind, gerade weil
sie an Gott glauben als den Grund und die Garantie ihrer Freiheit
und Mündigkeit.
-
Auch der gottlose Humanismus
hatte allzuoft inhumane Folgen, und in den Schreckenserfahrungen
unseres Jahrhunderts zwei Weltkriege, Gulag, Holocaust,
Atombombe erwies sich der Weg von der Humanität ohne
Divinität zur Bestialität oft als kurz.
Karl Marx (1818-1883)
wollte die Kritik des Jenseits, des Himmels in die Kritik des
Diesseits, der Erde verwandeln, die Kritik der Theologie in die
Kritik der Politik. Man kann kaum bestreiten, daß der herrschende
Gott der Christen vielfach der Gott der Herrschenden war: eine
Jenseitsvertröstung, Opium des Volks, ein Schmücken der Ketten
mit Blumen, anstatt sie zu zerbrechen. Die Marxschen Lösungen
(Abschaffung des Privateigentums und Sozialisierung von Industrie,
Landwirtschaft, Erziehung und Kultur) führten nicht zu einem automatischen
Absterben der Religion, wohl aber zu einer beispiellosen Ausbeutung
der Völker und einer Zerstörung von Moral und Natur.
Von Osteuropa und der DDR
über Südafrika bis nach Südamerika und den Philippinen hat sich
jedoch gezeigt, daß Religion nicht nur Mittel der sozialen Beschwichtigung
und Vertröstung sein kann, sondern auch so schon in der
nordamerikanischen Bürgerrechtsbewegung (Martin Luther King)
Katalysator der sozialen Befreiung: und dies ohne jene revolutionäre
Gewaltanwendung, die einen Teufelskreis von immer neuer Gewalt
zur Folge hat.
Sigmund Freud (1856-1939)
kritisierte mit vollem Recht Machtarroganz und Machtmißbrauch
der Kirchen. Er kritisierte die Fehlformen der Religion, das autoritäre
Gottesbild, Realitätsblindheit, Selbsttäuschungen und die Verdrängung
der Sexualität. Selbst heute noch wird manchmal der strafende
Vater-Gott von Eltern als Erziehungsinstrument zur Disziplinierung
der Kinder mißbraucht, mit langfristigen negativen Folgen für
die Religiosität der Heranwachsenden.
Doch in der Zwischenzeit
hat sich erwiesen, daß nicht nur die Sexualität, sondern auch
die Religiosität verdrängt werden kann; daß die ältesten, stärksten,
dringendsten Wünsche der Menschheit besser nicht als reine Illusion
abqualifiziert werden sollten und daß in einer Zeit allgemeiner
Orientierungs- und Sinnlosigkeit gerade der Gottesglaube zur Sinnerfüllung
im Leben und auch im Sterben verhelfen kann.
War der Gottesglaube oft
autoritär, tyrannisch und reaktionär, so konnte er sich gerade
in den letzten Jahrzehnten zunehmend als befreiend, zukunftsorientiert
und menschenfreundlich erweisen. Er kann soziales Engagement,
gesellschaftliche Reformen und den Weltfrieden fördern.
Schöpfungsglaube
im Zeitalter der modernen Naturwissenschaften?
Zu Recht werfen Naturwissenschaftler
den Theologen vor, sie hätten Gott allzuoft als Lückenbüßer mißbraucht,
um bislang Unerklärliches zu erklären. Umgekehrt aber kann kein
Naturwissenschaftler oder Philosoph mit physikalischen oder biologischen
Ergebnissen seinen atheistischen Standpunkt beweisen. Naturwissenschaften
und Religionen beantworten nämlich unterschiedliche Fragen: Die
Frage, wie der Evolutionsprozeß von Welt, Leben und Mensch
sich abspielt, versuchen die Naturwissenschaftler zu beantworten.
Letzte Fragen aber woher der Urknall (»Big Bang«), woher
Energie und Materie, Raum und Zeit stammen, warum überhaupt
etwas ist und nicht vielmehr nichts kann hingegen der Gottesglaube
beantworten.
Deshalb sollte man es vermeiden,
naturwissenschaftliche Erkenntnisse und religiöse Bekenntnisse
zu vermischen. Die Sprache der Bibel ist keine naturwissenschaftliche
Faktensprache, sondern eine metaphorische Bildersprache, die Tatsachen
deuten will. So beschreiben die beiden biblischen Schöpfungsberichte
nicht naturwissenschaftlich die Entstehung des Universums, geben
aber ein sinnvolles Glaubenszeugnis über seinen Ursprung, das
die Naturwissenschaft weder bestätigen noch widerlegen kann.
Woher
und wozu das Ganze?
An den biblischen
Schöpfergott glauben bedeutet: Der gute Gott ist
der Ursprung von allem und jedem. Er steht mit keinem bösen Gegenprinzip
in Konkurrenz. Die Welt im ganzen und im einzelnen ist grundsätzlich
gut. Der Mensch ist für die Pflege seiner Um-Welt, der Natur,
verantwortlich.
Wenn für den Biologen ein
übernatürliches Eingreifen Gottes bei der Entstehung des Lebens
mehr denn je als unnötig erscheint, so stellt sich aber (auch
dem Biologen) die existentielle Frage nach dem Ur-Grund und Sinn-Ziel
des ganzen Lebensprozesses. Woher und wozu das Ganze?
Diese Frage ist naturwissenschaftlich
unbeantwortbar. Sie verlangt eine existentielle Entscheidung.
Nur das glaubende Ja zu einem Urgrund, Ursinn und Urhalt kann
die Frage nach Ursprung, Ziel und Halt des Evolutionsprozesses
beantworten und so dem Menschen Hoffnung auf eine letzte Gewißheit
und Geborgenheit geben.
Gott, der allmächtige
Vater?
Nach Auschwitz, dem Gulag
und zwei Weltkriegen kann man nicht mehr vollmundig von »Gott,
dem Allmächtigen« reden. Im Neuen Testament bieten sich andere
»christlichere« Attribute an, die dem Prädikat »allmächtig« vorzuziehen
sind: »all-gütiger«, »all-erbarmender« oder schlicht »lieber Gott«.
Gott ist die Liebe (1. Joh. 4,8;16). Auf die Frage nach
Gott und dem Menschenleid kommen wir später zurück.
Wir gehen heute nicht mehr
mittelalterlich von einem Gott »über« oder »außerhalb« der Welt
aus. Denken wir heute Gott, so kann nur Gott in der Welt und
die Welt in Gott gedacht werden. Gott wirkt dann nicht als
Baumeister, sondern von innen als die dynamische wirklichste
Wirklichkeit im Entwicklungsprozeß der Welt. Unter voller Respektierung
der Naturgesetze wirkt Gott dann als der schöpferische Urhalt
und Sinn-Grund des Weltprozesses, der freilich nur im Glauben
angenommen werden kann. Demnach kann ich an einen allumgreifenden
Gott glauben, der unendliche Wirklichkeit ist, die von meiner
Endlichkeit zwar nicht getrennt, aber von mir unterschieden gedacht
werden muß. In diesem Glauben kann ich erkennen, daß ich in Ehrfurcht
»Du« sagen kann und in jüdisch-christlich-islamischer Tradition
beten darf: lobend, klagend, dankend, bittend und auch
empört aufbegehrend.
Wir wissen heute, daß Gott
kein Mann ist, daß alle Begriffe für Gott, auch das Wort »Vater«,
nur Analogien und Metaphern, Symbole und Chiffren sind und daß
keines der Symbole Gott »festlegt«. Da wir Menschen nun einmal
keine höheren Namen haben als Menschennamen und uns »Vater« oder
»Mutter« mehr sagt als »das Absolute« oder »das Sein selbst«,
dürfen wir ganz einfach zugleich nachpatriarchalisch, also
Gottes Muttersein einschließend beten: »Vater unser«, der
uns Vater und Mutter in einem ist.
Gemeinsamer Gottesglaube
Das hier entwickelte Gottes-
und Schöpfungsverständnis ist nicht nur für das Christentum gültig,
sondern betrifft alle drei abrahamischen Religionen, Judentum,
Christentum und Islam. Gemeinsam ist ihnen der Glaube an den einen
Gott Abrahams, die zielgerichtete Geschichtsschau, die prophetische
Verkündigung und das Grundethos, Kern eines gemeinsamen Weltethos
der Weltreligionen. Ein gemeinsames Engagement dieser drei Religionen
für Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit, für Menschenwürde und
Menschenrechte ohne allen ständig drohenden religiösen Fanatismus
ist dringend erforderlich. Aber auch die Religionen chinesischen
und indischen Ursprungs erkennen und anerkennen ein Letztes, Höchstes
oder Tiefstes, das alle Wirklichkeit bestimmt, ob »Schang-Ti«
(Herr in der Höhe), »Tien« (Himmel), »Tao« (der Weg) oder
»Brahman« (das Absolute) genannt.
Im vernünftigen
Vertrauen auf Gott besitze ich als Mensch einen festen
Standpunkt, von dem aus ich zumindest »meine« Welt bestimmen,
bewegen und verändern kann. Die freie Bindung an dieses eine Absolute
schenkt mir die große Freiheit gegenüber allem Relativen in dieser
Welt.
© Hans Küng, Jean-Louis
Gindt, Publik-Forum